Dies ist Teil 7 von 62 im Buch Sheltered Dreams
Lesedauer: 4 Minuten

5 Das Kennenlernen Teil 1

Auch heute hatte es für Carter wieder nur Absagen gehagelt. Sein Master of Engineering war offenbar genauso wenig wert wie seine langjährige Berufserfahrung. Ihm machte niemand etwas vor, wenn es um Renovierung, Sanierung und Werterhaltung von Gebäuden ging. Trotzdem endeten sämtliche Anstrengungen, eine Arbeit zu finden, mit einer Niederlage.
Nach diesem deprimierenden Tag war Carter frustriert und wütend, als er auf Joannas Haus zusteuerte. In der Mission hatte er sich einen Stift besorgt und eine wenig freundliche Notiz verfasst, die seine momentane Gemütslage deutlich widerspiegelte. Zusammen mit dem 50-Dollar-Schein schob er das Stück Papier in den Briefkastenschlitz.
Joanna blickte aus dem Fenster des Arbeitszimmers, während sie den aktuellen Nachrichten im Fernsehen lauschte. Ihr fiel eine Gestalt auf, die für einen Moment vor ihrem Grundstück stehen blieb, bevor sie Sekunden später in Richtung des Parks verschwand. Ihr Tablet leuchtete auf und informierte sie, dass der Funksensor des Briefkastens angeschlagen hatte. Sie runzelte die Stirn. Wer würde um diese Zeit Post einwerfen? Joanna lief neugierig zum Briefkasten. Darin fand sie einen zusammengefalteten Zettel, an dem eine Banknote mit einer Büroklammer befestigt war:

Behalten Sie Ihr Geld und Ihr Essen. Ich bin kein lebendes Sozialprojekt, um Ihr reiches Gewissen zu erleichtern. Ich will und brauche Ihre (finanzielle) Hilfe nicht. P. S. Trotzdem danke für das Essen und dafür, dass Sie mich nicht angezeigt haben.

Carter hatte den Eingang zum Park erreicht, als er eilige Schritte hinter sich hörte.
»Bitte warten Sie«, rief Joanna.
Statt stehen zu bleiben, ging Carter schneller, verfiel in einen leichten Lauf.
»Warten Sie, ich möchte nur kurz mit Ihnen reden.«
Schön für dich, dachte Carter, aber ich will nicht mit dir sprechen. Früher war er ein geselliger, lebenslustiger Typ gewesen. Mittlerweile verhielt er sich ausgesprochen paranoid, sobald es um Kontakte zu anderen Menschen ging. Er erwartete immer das Schlimmste und war zum Einzelgänger geworden. Da die Frau ihm unbeirrt folgte, müsste er einen Sprint hinlegen, um sie endgültig abzuschütteln. Wäre es wirklich so schlimm, ein paar Worte mit ihr zu wechseln? Was sollte schon passieren? Also blieb er stehen und drehte sich um.
»Hi«, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln, das gleichzeitig Unsicherheit ausdrückte.
Carter nickte ihr nur kurz zu, was sie offenbar irritierte, da sie sich räusperte.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie in irgendeiner Form mit dem Geld beleidigt habe. Das wollte ich auf keinen Fall.«
»Was wollten Sie dann?«, fragte Carter, immer noch kurz angebunden, obwohl ihn ihre Entschuldigung durchaus berührte. Dass sich jemand um seine Gefühle geschert hatte, war Ewigkeiten her.
»Ich dachte, ich mache Ihnen eine Freude und habe nicht in Betracht gezogen, dass ich Ihnen womöglich das Gefühl gebe, nichts wert zu sein. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie gekränkt habe.« Joanna blickte Carter abwartend an, aber er schwieg. »Sie reden nicht gerne, was?«
Er zuckte mit den Schultern. »In meiner Welt gibt es nicht viel, über das es sich zu reden lohnt.«
»Ich bin Joanna.«
»Carter.« Er könnte sich ohrfeigen. Warum zum Teufel nannte er ihr seinen Namen, obwohl er nichts mit ihr zu tun haben wollte?
»Ich freue mich, dich kennenzulernen, Carter.« Sie hielt ihm die Hand hin.
Er betrachtete ihren ausgestreckten Arm, machte aber keine Anstalten, die ihm angebotene Hand zu nehmen. »In meiner Welt schüttelt man besser auch keine Hände. Die kommen nicht oft genug mit Wasser in Kontakt.«
Joanna ließ den Arm sinken. Sie standen sich schweigend gegenüber und musterten sich unsicher.
»Du solltest abends nicht allein in schlecht beleuchteten Parks unterwegs sein«, sagte er schließlich.
Das entlockte ihr ein Grinsen. »Wärst du sofort stehen geblieben, hätte ich dir nicht hinterherlaufen müssen.«
»Seit ich auf der Straße lebe, setzt der natürliche Fluchtinstinkt ein, sobald mich jemand verfolgt«, gab er zu. Wie machte sie das? Wie brachte sie ihn dazu, einfach so über sich zu reden? Er sollte besser gehen.
»Wie lange übernachtest du schon im Freien?«, wollte sie wissen.
Ihre feinfühlige Art beeindruckte Carter. Für die meisten Leute war er Luft, nicht existent. Nicht wert, beachtet zu werden. Joanna hatte keine Berührungsängste, behandelte ihn wie einen normalen Menschen, nicht wie den Abschaum der Gesellschaft. Das streichelte seine wunde Seele. Trotzdem änderte es nichts daran, dass er seine Geschichte nie mit Fremden teilte.
»Zu lange«, lautete daher seine knappe Antwort.
»Jeder Tag, den ein Mensch ohne die Sicherheit der eigenen vier Wände leben muss, ist ein Tag zu viel.«
Carter rollte mit den Augen. Was wusste sie schon vom Leben auf der Straße? Selbst ihre Freizeitkleidung war auf lässige Art elegant. Das Outfit kostete garantiert mehr, als er in einem Monat an Sozialhilfe erhielt. Ihre Haare waren gestylt, sie trug perfektes Make-up und die zierlichen Hände waren manikürt. Sie sah aus, wie einem Hochglanz-Magazin entsprungen. Um sich ein Haus wie ihres in dieser Lage leisten zu können, waren mehr als ein paar Millionen auf der Bank nötig. Vermutlich war sie eine von den Frauen, die reich geheiratet hatten und sich vor lauter Langeweile wohltätigen Zwecken widmeten, mit denen sie vor ihren feinen Freunden der High Society angeben konnten. Carter hörte die Patrouille der Nachbarschaftswache näher kommen. »Ich muss weiter«, sagte er, drehte sich um und lief mit großen Schritten um die nächste Ecke.
Joanna sah ihm hinterher. Irgendetwas hatte dieser Mann an sich, das sie berührte. Seit ihrem ersten Zusammentreffen musste sie ständig an ihn und das Leben, das er führte, denken. Trotz seiner unnahbaren, schroffen Art war Joanna überzeugt, dass sich hinter dieser Fassade ein warmherziger Mensch verbarg, den das Schicksal hart gemacht hatte. Sie glaubte, in ihm dieselbe Einsamkeit zu erkennen, die auch sie mit sich herumtrug.

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Kapitel 5 – Das Kennenlernen

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