Dies ist Teil 8 von 62 im Buch Sheltered Dreams
Lesedauer: 5 Minuten

5 Das Kennenlernen Teil 2

»Hallo Joanna, so spät noch unterwegs?«, ertönte eine männliche Stimme hinter ihr. Sie wandte sich um. Vor ihr standen Timothy, Gary und Blair, die Nachtschicht der Nachbarschaftswache. Die Männer waren garantiert der Grund für Carters Flucht. Sicher schlief er hier im Park und wollte nicht entdeckt werden. Sie würde ihn auf keinen Fall verraten.
»Ich brauchte nach einem langen Tag im Büro dringend etwas Bewegung an der frischen Luft.«
»Das kenne ich«, erwiderte Gary. »Aber mir wäre wohler, wenn du nicht allein unterwegs wärst. Hast du von den Einbruchsversuchen in der Nachbarschaft gehört?«
»Ja, Rosa hat mir davon erzählt.«
»Heute Nachmittag haben zwei von diesen Junkies versucht, bei Peter und Laine übers Tor zu klettern. Jetzt kommen die Chaoten schon am helllichten Tag hierher, um Geld für ihren nächsten Schuss zu beschaffen. Ich kann nicht fassen, dass sich die obdachlosen Kriminellen in unserer Nachbarschaft herumtreiben.«
»Nicht jeder ohne eine feste Adresse ist automatisch kriminell, Gary«, merkte Joanna an.
Der schnaubte verächtlich. »Das glaubst auch nur du. Die sind alle abhängig oder haben wer weiß was auf dem Kerbholz. Warum sollten die sonst auf der Straße gelandet sein? Von rechtschaffener Arbeit sicher nicht.«
Timothy schaltete sich in das Gespräch ein. »Die Polizei wird ab Mitte nächster Woche vermehrt Streife fahren und sämtliche Parks in der Gegend gründlich durchforsten. Wir werden zusammenarbeiten und sobald sich nur eine dieser Gestalten hierher verirrt, wird es Platzverweise geben. Sollte die Person wieder auftauchen, steht für sie mindestens eine Nacht in der Zelle an. Falls irgendwer in unserem schönen Viertel wild kampiert, werden wir ihn finden.«
Joanna war Sicherheit wichtig, allerdings machten es sich Menschen wie Gary und Timothy ihrem Empfinden nach zu leicht, denn für sie gab es keine Zwischentöne. Es war einfacher, an dem Schwarz-Weiß-Denken festzuhalten, statt sich die Mühe zu machen, eine Situation von allen Seiten zu betrachten und hinter die Fassade zu blicken. Personen wurden mit Vorliebe in Schubladen einsortiert, ohne ihre Geschichte zu kennen, wie Joanna aus eigener, leidvoller Erfahrung wusste. Sie würde nie behaupten, selber frei von Vorurteilen zu sein, aber sie versuchte zumindest, nicht vorschnell über jemanden zu urteilen. Es gab immer zwei Seiten und solange man nicht in den Schuhen der anderen Person gelaufen war, konnte man die Druckstellen dieses Lebens gar nicht beurteilen. Aber heute wollte sie eine derartige Diskussion nicht führen, daher sagte sie nur: »Danke, dass ihr euch für die Sicherheit unserer Nachbarschaft einsetzt.«
Sie verabschiedete sich von den Männern und tat, als würde sie den Park verlassen, aber drehte um, sobald sich die Nachbarschaftswache entfernt hatte. Sie lief in die Richtung, in die Carter verschwunden war. Angestrengt blickte sie in die dunklen Büsche rechts und links des Weges.
»Carter?«, rief sie in gemäßigter Lautstärke. Sie bog um die nächste Ecke und rief erneut seinen Namen.
In seinem Versteck hatte sich Carter für die Nacht eingerichtet, als er ihre Stimme vernahm. Verdammt, sie war hartnäckig. Man würde ihn entdecken, wenn sie nicht endlich Ruhe gab. Sie rief erneut, was Carter dazu veranlasste, sich genervt aus seinem Schlafsack zu befreien. Er kroch aus der Hecke, den Abhang hinauf und trat direkt vor Joanna aus dem Gebüsch.
Sie fuhr zusammen und griff sich ans Herz. »Fuck, du hast mich erschreckt.«
Dass sie ein Schimpfwort benutzte, amüsierte Carter, was er sich jedoch nicht anmerken ließ. »Hör auf, hier herumzuspazieren und meinen Namen zu brüllen.«
»Ich habe nicht gebrüllt.«
Er seufzte. »Beweg deinen teuer verpackten Hintern nach Hause in dein schickes, warmes Bett und lass mich in Ruhe. Am besten vergisst du, dass ich existiere.« Je abweisender er sich verhielt, desto schneller würde er sie hoffentlich loswerden.
Joanna schob den rechten Ärmel ihrer Sweatshirtjacke hoch und betrachtete ihren Unterarm intensiv von allen Seiten. »Bin ich verletzt?«, fragte sie.
Carter runzelte die Stirn. »Nein.«
»Beruhigend, denn du hast ordentlich zugebissen. Ich wollte sichergehen, dass ich mein extrem schickes, wertvolles Outfit nicht mit Blut versaue«, war ihre sarkastische Antwort. Sie hielt ihm den Arm nah ans Gesicht. »Möchtest du noch mal zuschnappen?«
Gegen seinen Willen musste Carter leicht schmunzeln.
»Ich weiß nichts über dein Leben oder wie die Welt für dich aussieht, aber jeder verdient einen sicheren Platz zum Schlafen. Und dieser Park wird für eine Weile nicht sicher sein«, merkte Joanna an, bevor sie Carter erklärte, was sie von der Nachbarschaftswache erfahren hatte.
Der starrte sie entgeistert an. »Du hast nach mir gesucht, um mich zu warnen?«
»Findest du das seltsam?«
»Ja, du nicht?«
Über die Frage dachte Joanna einen Moment nach. Dann lachte sie auf. »Die Frau folgt einem ihr praktisch Unbekannten allein in den nächtlichen Park. Gutes Setting für einen Horrorstreifen. Von dieser Seite aus betrachtet, habe ich vermutlich tatsächlich den Verstand verloren.«
»Dein Mann wird das sicher auch denken. Komm, ich begleite dich zurück zur Straße.«
»Es gibt keinen Mann.« Sobald sie den Satz ausgesprochen hatte, fragte sie sich, ob sie zu viel über sich preisgegeben hatte. Immerhin wusste Carter jetzt, dass zu Hause niemand sehnsüchtig auf sie wartete. Überraschenderweise fühlte sie sich trotzdem nicht unbehaglich. Sie konnte nicht sagen warum, aber sie war fest davon überzeugt, dass sie in Carters Gegenwart sicher war. Ihr kam wieder der Beginn eines Horrorfilms in den Sinn. Sie konnte nicht anders und fing an zu kichern. »Mitternacht im Park – du kannst ihm nicht entkommen«, titelte Joanna.
Carter blickte sie von der Seite an. Er mochte diese Frau. Irgendwie. Was wiederum seltsam war, denn er mochte niemanden. Nicht einmal sich selbst.
»Du solltest vorsichtiger mit dem sein, was du einem Fremden anvertraust. Speziell wenn dieser jemand weiß, wo du wohnst. Nicht jeder hat gute Absichten«, merkte Carter an. Er begleitete Joanna bis zu ihrer Einfahrt.
»Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast.«
»Ich danke dir für die Warnung.«
»Hast du jemanden, bei dem du wenigstens für einige Tage unterkriechen kannst?«
Carter erwiderte darauf nichts. Es war Zeit, zu gehen. »Gute Nacht, Joanna.«

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Kapitel 5 – Das Kennenlernen

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