8 Das Blockhaus am See – Teil 2
»Zeit für eine Pause.« Joanna reichte ihm eine Tasse Kaffee.
»Danke.« Carter lehnte sich an die Hauswand und blickte aufs Wasser, während er am Getränk nippte. »Was ich vorhin zu dir gesagt habe, tut mir leid. Ich wünschte, ich könnte meine unüberlegten Worte zurücknehmen.« Er warf Joanna einen Seitenblick zu, woraufhin sie mit den Schultern zuckte. »Wenn das dein Bild von mir ist …«
»Ich habe gedankenlos meine Klischeeschublade geöffnet und dabei ist die verstaubte Stereotype entwischt. Das war überflüssig. Vor allem sollte ich es besser wissen, weil ich selbst in einer dieser Schubladen festsitze.«
»Ich mag diese engen, dunklen, miefigen Schubladen nicht.«
»Da sind wir schon zwei. Verzeihst du mir und erzählst mir ein wenig über dich? Bitte?«
Seine zerknirschte Miene ließ Joanna leicht lächeln. »An meine richtige Mutter kann ich mich kaum erinnern. Sie starb, als ich vier Jahre alt war. Meinen Vater kenne ich nicht. In der Geburtsurkunde steht kein Name und es gibt niemanden, den ich nach ihm fragen könnte. Vor einer Weile habe ich mithilfe eines DNA-Tests über Ancestry versucht, meinen Vater oder andere Familienmitglieder zu finden. Leider erfolglos.«
Obwohl Carter bemüht war, sich seine Empfindungen nicht anmerken zu lassen, konnte Joanna die Betroffenheit auf seinem Gesicht ablesen.
»Wo bist du nach dem Tod deiner Mutter aufgewachsen?«
»Ich verbrachte einige Jahre im Kinderheim und habe mir während dieser Zeit oft ausgemalt, wie schön es wäre, wenn mich jemand adoptieren und ich Teil einer Familie sein würde. Ich habe mich allein gefühlt, obwohl es andere Kinder gab, mit denen ich spielen konnte. Die Betreuer waren immer gut zu mir, aber eine echte Familie konnten sie nicht ersetzen. Irgendwann dachte ich, dass ich wohl etwas falsch mache, da mich offenbar niemand aufnehmen wollte.«
Vor seinem geistigen Auge sah Carter Joanna als kleines Mädchen, das sich nichts sehnlicher wünschte als zu jemandem zu gehören. Sein Herz wurde bei der Vorstellung schwer. Er hatte eine sorgenfreie, glückliche Kindheit gehabt, war mit liebevollen Eltern und einem Haufen Kumpels aufgewachsen.
Joanna blickte reglos in die Ferne. Carter sah ihr an, wie schmerzhaft diese Erinnerungen für sie waren, aber dann lächelte sie plötzlich.
»Auf dem Weg zur Schule kam ich jeden Tag an einem Spielzeugladen vorbei. Im Fenster saß eine Puppe mit langen, blonden Haaren und großen blauen Augen. Die Puppe war immer da, so als würde sie auf mich warten. Irgendwann gab ich ihr den Namen Mia. Eines Tages öffnete sich die Ladentür und eine Frau sprach mich an. Sie hatte bemerkt, dass ich oft vor dem Schaufenster stehen blieb, um mit der Puppe zu sprechen. Ich weiß noch, was ich zu der Frau sagte: Das ist Mia. Sie will auch keiner haben, genau wie mich. Deswegen sind wir jetzt Freundinnen. Teresa hat mich daraufhin mit in den Laden genommen. So lernte ich mit acht Jahren die wunderbarste Frau der Welt kennen. Teresa hat mir Mia geschenkt.«
»Hast du Mia noch?«, erkundigte sich Carter.
Joanna nickte. »Die Puppe ist mein Glücksbringer, denn durch sie ist mein allergrößter Wunsch in Erfüllung gegangen. Teresa hatte damals gerade ihren Mann verloren und wir haben uns gegenseitig Halt gegeben. Zuerst wurde sie meine Pflegemutter, schließlich durfte sie mich adoptieren. Wir waren ein unschlagbares Team. Für uns spielte es nie eine Rolle, dass wir nicht biologisch verwandt waren.«
Joanna zögerte einen Moment, dann stellte sie ihre inzwischen leere Tasse auf das Fensterbrett und ging zum Auto. Sie öffnete eine Tasche, die auf der Rückbank stand. Als sie sich zu Carter umdrehte, trug sie eine Puppe im Arm. Die Haare waren mittlerweile verfilzt, ein Auge öffnete sich nur halb. »Darf ich dir Mia vorstellen? Die Zeit ist auch an ihr nicht spurlos vorbeigegangen«, bemerkte Joanna, als sie Carters Blick auffing.
Er beugte sich auf Augenhöhe der Puppe. »Lass dir nichts einreden. Du bist wunderschön und ich freue mich, Joannas bester Freundin zu begegnen.« Er schüttelte Mias Hand. »Was sagst du?« Carter hielt sein Ohr an den Mund der Puppe. »Da hast du vollkommen recht.« Nickend richtete er sich wieder auf.
»Was habt ihr denn für Geheimnisse?« Joanna schmunzelte in sich hinein. Eine kindische Seite hatte sie an Carter nicht vermutet.
Er grinste sie breit an. »Weißt du, das ist einer von diesen Cliffhangern …«
Mit Carter herumzualbern war schön, befreiend, ungezwungen. Bei ihm konnte sie sie selbst sein. Von Mia hatte sie bisher nie jemandem erzählt, geschweige denn, die Puppe gezeigt. Bei Carter eine Ausnahme zu machen, schien erstaunlicherweise das natürlichste der Welt zu sein. Falls er es skurril fand, dass sie mit Mitte dreißig nie ohne Mia verreiste, zeigte er es nicht. Warum konnte es nicht immer so leicht und unbeschwert sein? Unvermittelt wurden ihre Augen feucht. »Ich bringe Mia wieder weg«, sagte sie und wandte sich ab. Carter war der Tränenglanz dennoch aufgefallen. Er folgte ihr zum Wagen.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«
Joanna schüttelte den Kopf. Sie verstaute Mia in der Tasche und es gelang ihr, die Tränen herunterzuschlucken.
»Aber du bist wegen irgendetwas traurig.«
Carters feine Antennen schienen sämtliche ihrer Gefühlsregungen einzufangen. Kein anderer Mann war je so empfindsam mit ihr umgegangen. Sie sah ihn nicht an, weil sie Angst hatte, doch die Fassung zu verlieren. Daher blickte sie an ihm vorbei auf den See, rieb die Finger aneinander. »Teresa ist letztes Jahr gestorben. Ihr Tod hat mich in tausend Stücke gerissen und bisher ist es mir nicht gelungen, mich wieder zusammenzusetzen. Sie fehlt mir unfassbar. Es fällt mir schwer, zu begreifen, dass ich sie nie wiedersehen, nie mehr ihre Stimme hören werde.«
Carter war fünfundzwanzig gewesen, als er beide Eltern im Abstand von acht Monaten verloren hatte. Daher wusste er nur zu gut, wie sich dieser Verlust anfühlte. Weil kein Wort der Welt den Schmerz lindern konnte, griff er schlicht nach Joannas Hand und drückte sie mitfühlend.
»Sie muss ein reizender Mensch gewesen sein.«
»Teresa war einmalig.« Joanna lächelte ihn an. »Sie hat mich dazu ermutigt, groß zu träumen. Sie ermöglichte mir ein Studium und hat mich auf meinem Weg als selbstständige Maklerin unterstützt. Sie stellte mir den damaligen Senator von New York vor, mit dessen Schwester sie seit Kindertagen befreundet war. An ihn verkaufte ich meine erste Immobilie. Er empfahl mich weiter, stellte mich wichtigen Leuten vor und plötzlich konnte ich mich vor Aufträgen nicht mehr retten. Der Erfolg von Real Living macht mich demütig und schwindelig zugleich. Ich, das Heimkind aus New York, hat es nach ganz oben geschafft. Ich habe nie vergessen, wo ich herkomme und was Teresa mir ermöglicht hat. Ihr verdanke ich alles.«
»Sei stolz auf dich. Du hast unglaublich viel erreicht und es geschafft, dir ein erfülltes Leben aufzubauen.«
Ihr Lachen klang bitter. »Das scheint so, nicht wahr? Seit Teresas Tod bin ich wieder auf mich allein gestellt. Es ist genau wie damals, als mich niemand wollte, nur umgekehrt. Im Grunde bin ich keinen Schritt weiter wie mit vier Jahren«, brach es aus Joanna heraus.
Carter warf ihr einen verwirrten Blick zu. »Wie meinst du das?«
»Heute wollen alle was von mir, aber es geht dabei nie um mich. Man will von meiner Bekanntheit profitieren, mich als Sprungbrett für die eigene Karriere benutzen. Als Person werde ich nicht wahrgenommen. Im Grunde existiere ich gar nicht. Niemanden interessiert, wer ich wirklich bin, wie es in mir aussieht.«
In ihren letzten Sätzen erkannte Carter sich wieder. Damit hatte sie seine Welt perfekt beschrieben.
»Es ist einsam an der Spitze«, fügte Joanna leise hinzu.
»Ganz unten auch«, sagte er, während sie ans Seeufer gingen. »Du hast niemanden, der dich in dieser schweren Zeit auffängt und etwas von deiner Last mitträgt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nach Teresas Tod war ich wie betäubt und habe mich auf jemanden eingelassen, von dem ich glaubte, er würde mich und nicht mein Geld sehen. Ein riesengroßer Irrtum, der in einer bitteren Enttäuschung endete. Ich habe dem Falschen vertraut.«
»Tja, ist so eine Sache mit dem Vertrauen. Kann dir das Genick brechen.« Carter hob einen der Kieselsteine vom Ufer auf, holte aus und warf ihn schwungvoll in den See.
»Wer hat dir das Genick gebrochen?« Joanna schaute ihn abwartend an.
»Mein Geschäftspartner.« Der nächste Stein landete im Wasser. Carter fixierte die kleinen Wellen, die durch den Wurf auf der Wasseroberfläche entstanden.
»Erzählst du mir deine Geschichte?«
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Kapitel 8 – Das Blockhaus am See