16 Alles auf Anfang – Teil 1
Carter war es gelungen, in einem der Hotels, welche die Stadt neuerdings Obdachlosen zur Verfügung stellte, ein Einzelzimmer zu beziehen. Das Site 35 lag unweit vom Union Square entfernt. Er bekam drei Mahlzeiten am Tag ins Zimmer geliefert und hatte sogar ein eigenes Bad. Mehr brauchte er zum Leben nicht. Seine Konzentration lag vollkommen auf der Arbeitssuche. Von dem Gehalt der letzten Monate hatte er eine größere Summe gespart. Diese Voraussicht würde sich nun auszahlen, denn er besaß Geld für eine Mietkaution. Damit stieg die Chance, von der Straße wegzukommen. Das Hotel war sein Sprungbrett zurück ins Leben.
Es klopfte an der Tür. Carter erwartete das Abendessen, daher öffnete er, ohne durch den Spion zu schauen. Dass Joanna vor ihm stand, brachte ihn völlig aus der Fassung. Er war versucht, die Tür sofort wieder zuzuschlagen. Wie hatte sie ihn gefunden? Sie zu sehen, löste auf der Stelle das vertraute Kribbeln in ihm aus. Es wanderte durch seinen Körper, vom Bauch zur Brust und nahm schließlich sein Herz in Besitz, das sofort rascher schlug. Diese verdammte Anziehungskraft war immer noch da, auch wenn es das Letzte war, was er sich eingestehen wollte. Damit er sich nicht weiter mit Joanna und seinen Empfindungen für sie auseinandersetzen musste, legte er es darauf an, sie rasch loszuwerden. Auf keinen Fall durfte er zulassen, dass sie wieder seine kompletten Gedanken blockierte und Bilder in seinem Kopf entstehen ließ, die er nicht sehen wollte.
»Was machst du hier?«, fragte er in frostigem Ton. Sein Blick war distanziert, richtiggehend kalt.
Darüber, dass Carter wieder seinen bissigen Zwilling ans Tageslicht holte, hätte Joanna normalerweise einen Witz gemacht, aber heute war ihr nicht danach zumute.
»Findest du es in Ordnung, mir einen läppischen Brief zu hinterlassen und ohne ein weiteres Wort zu verschwinden?«
»Ich denke, ich habe dir alles ausreichend erklärt.«
Joanna war dermaßen aufgebracht, dass sie Carter ins Zimmer drängte und die Tür hinter sich zuwarf.
»So einfach ist das für dich? Du ziehst sofort den Schwanz ein, wenn es stürmisch wird?«
»Überhaupt gar nichts ist daran einfach.«
»Deine Kündigung nehme ich nicht an.«
»Mein Entschluss steht. Ich tue das schließlich für dich.«
»Wenn du was für mich tun möchtest, dann pack deine Sachen, zieh zurück ins Gästehaus und sei morgen pünktlich im Büro.«
»Willst du mich eigentlich nicht verstehen?«
»Würde ich schon gerne, aber gelingt mir nicht. Was stört dich mehr? Dass ich einen Geschäftspartner überreden musste, seinen Vertrag nicht zu kündigen, dass einige Leute im Büro von deiner Vergangenheit erfahren haben oder dass uns eine Beziehung angedichtet wird?«
Carter zog die Brauen zusammen. »Woher weißt du …?«
»Rylan hat die gesamte Unterhaltung mitbekommen.«
Carter ließ den Kopf auf die Brust sinken und atmete laut aus. Schließlich sah er Joanna an. »Drei gute Gründe, nicht mehr für dich zu arbeiten. Dass ich Probleme verursache und Unruhe stifte, kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.«
»Schade, ich dachte, du hättest mehr Rückgrat und stehst zu deinem Wort. Du hast versprochen, dass ich mich auf dich und deine Arbeit verlassen kann.«
»Was erwartest du von mir? Dass es mir egal ist, wenn dein Ruf Schaden nimmt? Wenn hinter deinem Rücken über dich getratscht wird? Entschuldige bitte, dass ich kein Egoist bin. Mein Fehler.«
»Über mich wird ständig getratscht. Damit lebe ich seit Jahren. Und um den Ruf meiner Firma mache ich mir Gedanken, sobald es nötig wird. Risikomanagement gehört nicht zu deinen Aufgaben.« Sie seufzte. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
»Musst du nicht, ist nicht deine Aufgabe«, gab er mit harschen Worten zurück.
Joanna blitzte ihn zornig an. »Du hast vollkommen recht. Dein Leben, deine Entscheidung. Ich erwarte dich spätestens nächsten Montag im Büro. Solltest du bis dahin nicht zurückkommen, machen wir deine Papiere fertig. Ich kann keine Leute gebrauchen, auf die ich mich nicht verlassen kann.«
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Kapitel 16 – Alles auf Anfang