Dies ist Teil 42 von 62 im Buch Sheltered Dreams
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22 Die Benefiz-Gala Teil 2

»Wer keine feste Anschrift vorweisen kann, dem wird der Zugang zum Arbeitsmarkt massiv erschwert. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man aussortiert wird, ohne die Chance zu bekommen, sich zu beweisen. Obdachlosigkeit ist ein Stigma. Man gilt automatisch als unzuverlässig, Schmarotzer und Drogenkonsument. Kriminell ist man sowieso.«
Carter schaute in die Gesichter der Zuhörer. Glens Lippen waren zu einem Strich zusammengekniffen. Ohne zu blinzeln, starrte er Carter an, wovon der sich nicht beeindrucken ließ.
»Ich habe studiert, meinen Master gemacht. Zwölf Jahre führte ich ein erfolgreiches Unternehmen, das auf sicheren Beinen stand. Durch den Betrug meines Geschäftspartners verlor ich von einer Sekunde auf die andere nicht nur meine Firma, sondern als Folge auch mein Dach über dem Kopf und damit das Leben, wie ich es kannte. Ich werde Ihnen ungeschönt erzählen, wie es sich anfühlt, aus der Sicherheit eines geregelten und sorgenfreien Daseins mit zwei Plastiktüten und einem Rucksack auf der Straße zu landen.«
Ein Raunen ging durch den Saal.
»Ich wurde grundlos in Schlägereien verwickelt, fünfmal musste ich ins Krankenhaus eingeliefert werden. Ich wurde mehrfach sexuell belästigt, etliche Male ausgeraubt und bin neben Personen aufgewacht, die an einer Überdosis gestorben waren. Direkt neben mir wurde ein Mensch erschossen. Es gab Nächte, in denen ich vor Angst überhaupt kein Auge zubekam. Von Passanten bin ich angespuckt, vor ein Auto geschubst und in jeder erdenklichen Weise beleidigt worden.«
Joanna hielt schockiert die Luft an. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus. Diese Details waren völlig neu für sie, da Carter nie genauer über seine Zeit auf der Straße sprechen wollte. Seine Worte sorgten dafür, dass sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog.
»Ich brauchte Zeit, um meine Situation vollständig zu erfassen. Zu begreifen, dass das Leben auf der Straße meine neue Realität war, fiel mir schwer. Ich fand mich nicht zurecht, habe mehrere Tage gehungert, bis ich verzweifelt genug war, um den größten Teil meines Stolzes über Bord zu werfen. Ich ging zur Mission St. Anthony‘s und bat um Hilfe. Das war einer der schwersten Momente für mich, denn bis zu dem Tag bin ich immer für mich selbst aufgekommen und plötzlich konnte ich das nicht mehr. In meinem Kopf rotierten Fragen. Wie komme ich aus der Situation heraus? Bin ich überhaupt noch etwas wert? Selbstzweifel und Existenzängste waren meine ständigen Begleiter. Alle Versuche, Arbeit und eine Unterkunft zu finden, blieben erfolglos. Mein Selbstwertgefühl bekam einen massiven Knacks. Ich war kurz davor, zu resignieren. Jetzt fragen Sie sich vermutlich, was ich heute hier im Anzug mache.«
Verschiedene Personen nickten.
»Vor einigen Monaten wurde ich erneut überfallen und das wenige, was ich besaß, musste ich zurücklassen, um mich in Sicherheit zu bringen. An dem Tag schaffte ich es nicht rechtzeitig zur Essensausgabe der Mission. Ich wanderte ziellos durch die Straßen und endete auf dem Grundstück von Joanna Callaway, wo ich die Abfalltonne nach etwas Essbarem durchsuchte. Dabei wurde ich von ihrer Haushälterin erwischt. Ich muss an dem Abend verheerend ausgesehen haben. Der Angreifer hatte mir eine Schnittverletzung am Hals zugefügt, daher war meine Kleidung blutverschmiert. Joanna hätte das Recht gehabt, mich festzuhalten und anzuzeigen, da ich mich widerrechtlich auf ihr Grundstück geschlichen hatte. Statt die Polizei zu rufen, gab sie mir nicht nur etwas zu essen, sondern versorgte mich ebenfalls mit Verbandmaterial und bot mir ärztliche Hilfe an. Um Sie nicht zu langweilen, kürze ich die Geschichte ab. Joanna ließ sich durch mein Äußeres nicht abschrecken. Sie hat mich nicht vorverurteilt, sondern sich die Mühe gemacht, den Menschen Carter Doyle kennenzulernen. Joanna hat an mich geglaubt. Sie vertraute mir und gab mir Arbeit, wofür ich ihr ewig dankbar sein werde.« Er schenkte Joanna ein herzliches Lächeln, das sie erwiderte. »Ich hatte vor Kurzem das unfassbare Glück, mein ehemaliges Haus zurückkaufen zu können. Dank Joanna habe ich ein Leben, das wieder lebenswert ist, das ich genieße. Die Welt braucht mehr Joanna Callaways. Auch wenn Sie heute nichts spenden möchten, denken Sie bitte das nächste Mal an meine Worte, wenn Sie einem Obdachlosen auf der Straße begegnen. Wohnungslose sind Menschen mit Gefühlen. Sie kommen aus allen Schichten, allen Bildungsniveaus und allen Berufen. Mein akademischer Grad hat mich nicht davor geschützt, obdachlos zu werden. Machen Sie sich bewusst, dass es jeden treffen kann. Auch Sie. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«
Carter verließ die Bühne und steuerte umgehend die Treppe an, die zum Dachgarten des Hotels führte. Im Saal konnte man eine Stecknadel fallen hören, bevor Applaus aufbrandete, der minutenlang anhielt. Joanna gab ihr Wasserglas an der Bar ab und folgte Carter. Er stand an der Brüstung, blickte reglos auf die Lichter der Stadt.
»Bist du in Ordnung?« Joanna trat neben ihn.
Er antwortete ihr nicht sofort, ließ mit einem tiefen Seufzer Luft entweichen. »Hoffentlich habe ich diesen wichtigen Abend mit meiner unbedachten Aktion nicht ruiniert. Ich hatte mir fest vorgenommen, nicht emotional zu werden, aber dann meinte jemand, dass Obdachlose Parasiten wären, die sich auf Kosten anderer durchs Leben schnorren. Das konnte ich nicht unkommentiert stehen lassen.«
»Hast du eine Ahnung, wer das gesagt hat?«, wollte Joanna wissen.
»Ein Mann hat ihn mit Glen angesprochen. Er schien nicht seiner Meinung zu sein, denn er hat ihn als Arsch betitelt.« Darüber musste Carter nun doch schmunzeln.
»Glen Turner. Ihm gehören verschiedene Fernsehsender und Radiostationen.« Joanna wunderte eine solche Aussage aus Glens Mund nicht. Er war ein typischer Machtmensch, der versuchte, sein Gegenüber mit Einschüchterungsgesten kleinzumachen, um immer genau das zu bekommen, was er wollte. Er war erfolgsverwöhnt und gehörte zu den Menschen, die spendeten, um Steuern zu sparen, nicht um der Sache willen. Mit einer solchen Ansicht konnte Joanna wenig anfangen, aber wenn Glen schon Geld ausgab, warum dann nicht für ihre Stiftung? Solange damit etwas Gutes getan werden konnte, waren ihr seine Beweggründe egal.
»Ich wollte nie wieder ein Wort über meine Zeit auf der Straße verlieren. Schon gar nicht in dieser detaillierten Form vor so vielen Leuten.« Schlagartig wurden Carter die Knie weich, da ihm dämmerte, dass er mit der Rede garantiert eine Lawine losgetreten hatte. Sein Name würde wieder einmal in der Presse auftauchen.
Am liebsten hätte Joanna ihn in den Arm genommen, aber irgendetwas sagte ihr, dass er in diesem Moment kein Mitgefühl wollte. Sie merkte förmlich, wie Carter sich versteifte, daher drückte sie lediglich seine Hand und sagte: »Ich lasse dich einen Moment allein.«
Als Carter etwas später den Saal betrat, wurde er sofort von Menschen umringt, die ihn in ein Gespräch über seine Zeit auf der Straße verwickelten. Er bemühte sich, freundlich zu antworten, behielt die gute Sache im Hinterkopf. Aus dem Augenwinkel bemerkte er irgendwann, dass Joanna in Richtung Waschräume ging und Glen ihr wie ein Schatten folgte. Ihm war bereits zuvor aufgefallen, dass Glen sich immer in Joannas Nähe aufhielt. Der Mann wurde ihm von Minute zu Minute unsympathischer. Carter entschuldigte sich bei seinem Gesprächspartner und schlug den Weg zu den Waschräumen ein.
»Deinen Auftrag übernehmen wir selbstverständlich gerne. Hope wird passende Objekte für dich heraussuchen und mit dir Besichtigungstermine vereinbaren«, sagte Joanna.
»Ich erwarte bei dieser Auftragssumme, dass du mich persönlich betreust.«
»Glen, ich kümmere mich nicht mehr ums Tagesgeschäft. Bei Hope bist du in den allerbesten Händen.«
»An Hopes Händen bin ich nicht interessiert. Du weißt genau, was ich will. Lass uns morgen zusammen essen gehen.«
»Danke für deine Einladung, aber ich …«
Genau in der Sekunde tauchte Carter hinter Joanna auf.
»Hier bist du«, rief er aus, dann wandte er sich an Glen: »Sie entschuldigen uns? Joanna hat mir den nächsten Tanz versprochen.«
Carter nahm ihre Hand, legte sie in seine Armbeuge und ging langsam mit Joanna zurück zum Ballsaal. »Danke, dass du mich erlöst hast«, wisperte sie ihm zu.
Carter lächelte. »War mir ein Vergnügen.«
Inzwischen hatte er Joanna auf die Tanzfläche geführt.
»Oh, wir tanzen wirklich?«, fragte sie, da er ihr eine Hand auf den Rücken legte und sie näher zu sich zog, als die Band „All of Me“ von John Legend anstimmte.
»Möchtest du nicht tanzen?«
»Doch, aber ich hatte nicht gedacht, dass du …«
»Tanzen kannst?«
Sie lachte. »So viel zu Vorurteilen. Entschuldige, ich habe das einfach nicht erwartet.«
Carter war ein guter Tänzer, führte Joanna stilsicher über das Parkett. Ihre Blicke verhakten sich, sie versanken völlig ineinander, bemerkten nicht, dass der Song endete und die Band beim Anblick der beiden mit einem Augenzwinkern nahtlos zu „Perfect“ von Ed Sheeran überging.
Joanna war sich der Wärme von Carters Körper mehr als bewusst. Seine Hand lag auf ihrem unteren Rücken, genau dort, wo der Stoff des Kleides ihre Haut freigab. Er zog sie etwas enger an sich, dabei streichelte er leicht über ihre Haut. Es war heiß hier, oder bildete sie sich das ein?
»Ich brauche dringend eine Pause. Lass uns frische Luft schnappen«, bat Joanna nach einem weiteren Tanz.
Als sie den Saal verließen, registrierte Carter, dass Glen ihn mit giftigen Blicken durchbohrte.

***

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Kapitel 22 – Die Benefiz-Gala

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