Dies ist Teil 1 von 62 im Buch Sheltered Dreams
Lesedauer: 4 Minuten

1 Der Überfall

Carter döste im heruntergekommenen Hinterhof des Rainbow Deli Schnellrestaurants. Da ihm bis zur abendlichen Essensausgabe der Mission etwas Zeit blieb, drehte er sich mit geschlossenen Augen auf die Seite. Er schreckte aus dem Halbschlaf hoch, als ihm der Rucksack unsanft unter dem Kopf weggerissen wurde. In der nächsten Sekunde fand sich Carter im Würgegriff wieder. Jemand hielt ihm ein Messer an den Hals. In Carters Brust bildete sich ein Engegefühl, sein Körper kribbelte unangenehm.
»Netten Platz hast du hier. So abgeschieden und intim«, flüsterte eine männliche Stimme. Ein Atemhauch streifte Carters Gesicht. Sobald ihm der ekelerregende Geruch von Fäulnis, gemischt mit einer Alkoholfahne, in die Nase stieg, würgte Carter. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich nicht zu übergeben.
Der Typ drückte sich enger an ihn, rieb sich in eindeutiger Absicht an Carter.
»Wir werden eine Menge Spaß miteinander haben«, säuselte die Stimme. Der Mann zog die Umklammerung weiter an, was Carter das Atmen erschwerte und ihn nah an eine Ohnmacht brachte.
»Bevor wir zum heißen Teil kommen, wirst du mir verraten, wo du dein Geld hast.«
Carter spürte den Druck der Klinge am Hals. Mittlerweile kannte er das Gesetz der Straße nur zu gut. Der Stärkere gewann. Immer. Als er das erste Mal mit einem Messer angegriffen wurde, hatte er sich dem Täter entgegengesetzt, sich geweigert, ihm Geld und seine Regenjacke zu geben. Das Ergebnis war ein tiefer Schnitt im Oberarm gewesen, der in der Notaufnahme behandelt werden musste. Geld und Jacke hatte er trotzdem verloren. Mit kratziger Stimme brachte Carter hervor: »Im Rucksack, Innentasche.«
»Muss ich nachsehen, oder kann ich dir das glauben?«
»Sieh nach, wenn du willst.« Carters Gehirn lief auf Hochtouren, während er versuchte, Ruhe zu bewahren. Er hatte beim besten Willen keine Idee, wie er sich aus dieser Lage befreien sollte, ohne sein Leben zu riskieren.
»Ich glaube dir«, sagte der Typ und nahm das Messer in die andere Hand. »Bleib ruhig liegen, dann wird es für dich auch schön. Ich möchte so einem hübschen Kerl wie dir ungern wehtun.«
Das unverkennbare Geräusch eines sich öffnenden Reißverschlusses verursachte Carter eine Gänsehaut. Schweiß lief ihm den Rücken herab, er zitterte.
»Bist schon aufgeregt, was? Geht mir genauso.« Die freie Hand des Angreifers wanderte zu Carters Schritt. »Heb mal deinen Hintern und zieh dir schön langsam die Hose runter. Keine hektische Bewegung, klar?« Die Klinge wurde fester an Carters Haut gedrückt.
Hinter ihnen ertönte ein ohrenbetäubendes Scheppern, als der Metalldeckel eines Mülleimers auf den Boden donnerte. Der Krach ließ beide Männer erschrocken zusammenfahren. Dabei ritzte der Angreifer Carter mit dem Messer in den Hals. Eine verängstigte Katze kam wie der Blitz aus der Dunkelheit geschossen und krallte sich fauchend in das Bein des Angreifers.
»Dämliches Mistvieh«, schrie der Kerl. Er wehrte das Tier ab, was ihn unaufmerksam machte. Er rückte etwas von Carter ab, dabei lockerte sich sein Griff.
Das war Carters Chance. Die Angst durfte ihn nicht beherrschen, er musste den Adrenalinschub nutzen, um zu entkommen. Mit aller Kraft drückte er den Arm des Angreifers von sich weg. Es gelang ihm, auf die Beine zu springen. Dass er blutete, ignorierte er. Ohne sich umzusehen, rannte er blindlings aus dem Hof auf die Straße. An der Ecke Turk/Gough Street lief er in den Jefferson Square Park, wo er sich zwischen Büschen versteckte. Seine Lunge schmerzte von der Anstrengung. Er brauchte mehr Sauerstoff, aber ihm gelang es nicht, die Atemfrequenz zu erhöhen. Abgehackt sog er die Luft in kleinen Strömen durch die Nase ein. Nur mit Mühe unterdrückte er einen Hustenanfall. Er schloss die Augen, was keine gute Idee war, denn die Erinnerung an den abartigen Geruch und die eindeutige Absicht des Angreifers traf Carter mit voller Wucht. Vergeblich kämpfte er gegen das aufsteigende flaue Gefühl im Magen an. Er würgte mehrmals, bevor er sich übergab. Während Carter darauf wartete, dass das Brennen in der Speiseröhre nachließ und sich seine verkrampften Bauchmuskeln entspannten, dachte er über das nach, was von seiner Existenz übrig war. Zwischen seinem jetzigen und seinem alten Leben klaffte ein unüberwindbarer Graben, der mit Verzweiflung gefüllt war. Er wollte weg von all den Schatten. Er wollte wieder einen wolkenlosen Himmel über sich. Stattdessen saß er in einem nicht enden wollenden Albtraum aus Armut, Gewalt, Diskriminierung und Respektlosigkeit fest. Auf keinen Fall würde er wieder hinter dem Deli übernachten. Er brauchte einen neuen Platz. Am besten weit weg vom durch Kriminalität und Drogen traumatisierten Tenderloin District. Das Straßenbild des schäbigen Viertels prägten Menschen, die in psychotischen Zuständen unsichtbare Feinde anbrüllten, auf offener Straße dealten und von Personen, die ohnmächtig im Alkohol- oder Drogenrausch auf dem Bürgersteig lagen, häufig mit der Hose in den Kniekehlen. Carter wurde mehrfach angegriffen, weil er offenbar den Fehler machte, eine Person anzusehen, statt sich abzuwenden. Mittlerweile ging er meist mit gesenktem Kopf, um möglichst niemanden zu provozieren, indem er einfach nur atmete.
Im Tenderloin District befanden sich die wichtigsten Einrichtungen für Wohnungslose. Es gab mobile Waschräume, eine Klinik für medizinische Notfälle und gemeinnützige Organisationen sorgten für Mahlzeiten und Kleidung. Wer Hilfe brauchte, musste täglich in das heruntergewirtschaftete Viertel im Stadtzentrum, das an das Rathaus, beliebte Touristenhotels sowie an Konzerthäuser und Museen grenzte.
Leute hasteten über die Gehsteige, Autos hupten, Radfahrer rauschten vorbei, das Glockenläuten der Cable Cars war zu hören. Die Stadt klang wie immer, sah aus wie immer, aber der Schein trog. Früher liebte Carter die quirlige, multikulturelle, tolerante Metropole an der Bucht. Inzwischen hatte er auf schmerzhafte Weise erkennen müssen, dass Toleranz für die meisten da aufhörte, wo Obdachlosigkeit anfing. San Francisco war für ihn zu einem Gefängnis geworden.

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