Dies ist Teil 26 von 62 im Buch Sheltered Dreams
Lesedauer: 5 Minuten

14 Eine Kurzschlussreaktion Teil 1

Joanna stürmte aus dem Haus und suchte jeden Winkel des Lafayette Parks ab, in der Hoffnung, Carter dort anzutreffen. Aber sie hatte kein Glück. Wo steckte er bloß? Ihr fiel die Mission ein, von der er ihr erzählt hatte.
»Hi, wo willst du hin? Soll ich dich fahren?«, rief Carlos, der in dem Moment mit Rosa zurückkam, als Joanna in ihren Pick-up stieg.
»Ich bin auf dem Weg zur Mission St. Anthony‘s.«
»Du willst nicht ernsthaft um diese Zeit allein in den Tenderloin District.«
»Ich muss Carter suchen.«
»Lass mich das übernehmen. Da ist es viel zu gefährlich.«
»Ich werde nicht hier sitzen und Däumchen drehen, während Carter aus falschem Stolz wieder auf der Straße unterwegs ist.«
»Dann komme ich mit. Auf keinen Fall fährst du allein. Zieh dir irgendwas an, das nicht nach Geld aussieht, damit wir nicht sofort auffallen«, ließ Carlos rigoros verlauten.
Kurze Zeit später parkte Carlos den Wagen einen Block von Tenderloin entfernt, denn in keinem anderen Stadtviertel wurden so viele Autos gestohlen. Ein teures Fahrzeug würde umgehend das Interesse von Dieben auf sich ziehen, was Carlos unbedingt vermeiden wollte. Den kurzen Weg zur Mission legten sie zu Fuß zurück. Joanna taxierte jede Person, die ihnen begegnete, in der Hoffnung, sie würde Carter entdecken. Damit machte sie sich keine Freunde. Mehrfach musste Carlos einschreiten, weil sie angepöbelt wurde.
»Seit ich das letzte Mal hier war, ist der Ton um einiges rauer geworden«, merkte Carlos an. »Ich habe kein gutes Gefühl. Wir sollten umkehren.«
»Kommt nicht infrage.« Joanna beschleunigte ihre Schritte, sobald die Mission ins Blickfeld kam. Sie rüttelte an der verschlossenen Tür. »Siehst du eine Klingel?«, fragte sie Carlos.
Der deutete auf ein Schild. »Wir sind zu spät. Die schließen um 20 Uhr.«
»Verdammter Drecksmist«, fluchte Joanna und kickte die Tür mit dem Fuß. Dafür erntete sie von Carlos eine hochgezogene Augenbraue. Als die beiden sich zum Gehen umwandten, sahen sie sich einem Polizisten gegenüber, der sie mit verschränkten Armen beobachtete. »Ich rate Ihnen, schleunigst weiterzugehen.«
»Entschuldigung, ich suche …«
»Lady, sparen Sie Ihren Atem. Ich möchte, dass Sie sich von hier entfernen. Sollten Sie mir erneut auffallen, werde ich nicht mehr so freundlich sein. Vandalismus kann Ihnen eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder eine saftige Geldstrafe einbringen. Abmarsch.«
Das war doch keine Art, mit Menschen umzugehen, sie nicht einmal ausreden zu lassen. Joanna setzte zu einer wütenden Erwiderung an, aber Carlos griff nach ihrem Arm und zog sie mit sich. »Halt jetzt bloß den Mund, sonst sitzt du schneller im Gefängnis, als du deinen Namen aussprechen kannst«, zischte er ihr leise zu.
»So lasse ich nicht mit mir reden. Ein Mann wird vermisst und der hat kein größeres Problem, als mit irgendwelchen bescheuerten Sanktionen zu drohen. Wo leben wir denn?«
Carlos blickte sich zu dem Polizeibeamten um, der sie nach wie vor im Auge hielt. »Geh einfach weiter. Außerdem wird Carter nicht vermisst. Er ist freiwillig gegangen, da kann die Polizei überhaupt nichts machen.«
Aus einem Seitenausgang der Mission trat ein Mann, in den Joanna prompt hineinrannte, weil sie weiterhin mit Schimpfen beschäftigt war, ohne ihrer Umgebung Beachtung zu schenken. Carlos gelang es nicht, sie rechtzeitig zur Seite zu ziehen.
»Da ist aber jemand stürmisch unterwegs«, sagte der Mann und hob lachend seine Tasche auf, die ihm bei dem Zusammenprall aus der Hand gefallen war. »Haben Sie sich wehgetan?«, erkundigte er sich bei Joanna.
»Nein, absolut meine Schuld. Ich habe mich über den Gesetzeshüter hinter uns aufgeregt und war abgelenkt. Arbeiten Sie in der Mission?«
»Ja.«
»Oh, prima. Wir suchen jemanden. Warten Sie, ich habe ein Foto.« Joanna zog Carters Firmenausweis aus der Hosentasche. »Kennen Sie Carter?«
Der Mann betrachtete das Bild. »Was wollen Sie von ihm?«
»Ich bin Joanna Callaway. Carter hat für mich gearbeitet. Es gab ein Missverständnis und er hat aus einer Kurzschlussreaktion heraus gekündigt. Vermutlich ist er zurück auf die Straße. Ich muss ihn dringend finden, um mit ihm zu reden.«
»Er hat mir von Ihnen erzählt. Schön, Sie kennenzulernen. Ich bin Tate Wheeler.« Er streckte Joanna die Hand hin, die sie sofort schüttelte. Nachdem Carlos sich ebenfalls vorgestellt hatte, tauchte der Polizist hinter ihnen auf.
»Hier alles in Ordnung?« Er bedachte Joanna und Carlos mit einem strengen Blick.
»Hey Mike«, begrüßte ihn Tate. »Die beiden sind auf der Suche nach jemandem.« Er nahm Joanna den Ausweis ab und hielt ihn Mike hin. »Hast du den in letzter Zeit gesehen?«
»Warum suchen Sie ihn?«, fragte Mike misstrauisch.
Joanna erklärte ihm den Hintergrund und sobald ihr Name fiel, war Mike wie ausgewechselt. Sie wurde regelmäßig in internen Rundmails erwähnt, da ihre großzügigen Spendengelder unter anderem der Polizeiseelsorge zufielen. Mike betrachtete das Bild eingehend.
»Ich kenne das Gesicht, aber den habe ich seit Längerem nicht mehr gesehen.«
Joanna zückte eine Visitenkarte. »Sollte er Ihnen begegnen, würden Sie mich anrufen?«
»Das kann ich gerne tun. Ich werde auch meinen Kollegen Bescheid geben.«
»Dankeschön, das ist freundlich von Ihnen.« Joanna war die Liebenswürdigkeit in Person, aber innerlich kochte sie. Die Haltung des Polizisten hatte sich in dem Moment geändert, als er begriffen hatte, wer vor ihm stand. Das war es also, womit Carter und die anderen auf der Straße tagtäglich kämpften. Sie wurden automatisch drittklassig behandelt, wie Joanna soeben am eigenen Leib erfahren hatte.
»Schönen Abend noch.« Mike tippte zum Abschied an seine Mütze.
»Was für ein Schmierlappen«, rutschte Joanna heraus, womit sie Tate zum Schmunzeln brachte.
»Sehen Sie ihm das nach. Die Arbeit hier im Viertel kann einem aufs Gemüt schlagen. Man braucht ein dickes Fell, um nicht unterzugehen.«
»Das bezweifle ich nicht. Es zunächst mit Höflichkeit zu versuchen, hat trotzdem noch keinem geschadet«, gab Joanna zurück, bevor sie Tate fragte: »Sie haben Carter ebenfalls nicht gesehen?«
»Leider nein. Zuletzt war er hier, um uns zu sagen, dass er eine Anstellung hat. Wir haben uns riesig für ihn gefreut. Carter ist ein netter Typ, der unfassbar hart daran gearbeitet hat, wieder auf die Beine zu kommen. Es ist nobel, dass Sie ihm eine Chance gegeben haben.«
»Jeder, der ihn wenigstens hätte Probearbeiten lassen, hätte ihn eingestellt. Daran ist nichts nobel. Solche Leute wie Carter braucht ein Unternehmen.«
»Haben Sie auch eine Visitenkarte für mich? Ich höre mich gerne um. Wenn Carter wieder auf der Straße lebt, werde ich sicher etwas herausfinden können.«
»Das wäre wunderbar. Ich bin die kommenden Tage aus geschäftlichen Gründen nicht in der Stadt, aber bitte rufen Sie mich jederzeit an, falls Sie etwas in Erfahrung bringen.«
»Das mache ich«, versprach Tate, während er die Visitenkarte in seiner Tasche verstaute.
»Könnte ich nach meiner Rückkehr vorbeischauen und Sie führen mich in der Mission herum? Ich möchte mir gerne einen Eindruck über Ihre Arbeit verschaffen und Sie mit Spenden unterstützen, wenn mir gefällt, was ich sehe.«
»Sehr gerne. Ich bin unter der Woche zu den normalen Geschäftszeiten hier. Fragen Sie einfach am Haupteingang nach mir.«

***

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Kapitel 14 – Eine Kurzschlussreaktion

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