15 Auf eigene Faust
Joanna hatte sich umgezogen, trug eine verwaschene Jeans, einen grauen Kapuzenpullover und schwarze Chucks, die sie vor ihrer Abreise im Büro deponiert hatte. Carlos würde sie umbringen, wenn er wüsste, dass sie allein unterwegs war. Sie wollte unbedingt authentische Eindrücke sammeln, ohne dass ihr die Anwesenheit von Carlos Sicherheit gab. Ihr war es wichtig, diese Seite der Stadt besser kennenzulernen, ein Gefühl für das Viertel und die Menschen zu bekommen. Wie dicht Reichtum und Armut im Stadtzentrum zusammenlagen, wurde ihr durch diesen Streifzug erst richtig bewusst. War sie an der Drehscheibe der Cable Cars an der Powell Street von Touristenscharen umgeben gewesen, fand sie sich nach der Überquerung der nächsten Straße in einer gänzlich anderen Atmosphäre wieder. Es war, als sei die Ampel Market und 5th Street ein Portal in eine andere Welt. Das für die Touristen polierte Stadtbild bekam mit jedem zurückgelegten Meter größere Risse. Müll bedeckte die Bürgersteige, wurde vom Wind durch die Luft gewirbelt. Sobald sie in die Golden Gate Avenue abbog, überkam Joanna ein beklemmendes Gefühl. Sie spürte argwöhnische Blicke auf sich, so als ob sofort erkennbar war, dass sie nicht aus diesem Viertel stammte. Joanna lief automatisch schneller. Sie stieg über benutzte Nadeln und etwas, dass nach menschlichem Kot aussah. Kurz bevor sie den Eingang der Mission erreichte, nahm sie in einiger Entfernung zwei Polizeibeamte wahr, die einen benommenen Mann von der Fahrbahn aufhoben und ihn ein paar Meter weiter auf dem Bürgersteig ablegten. Sie fühlten seinen Puls, sprachen kurz mit ihm, bevor sie ihren Weg fortsetzten. Fassungslos sah Joanna zu. Dieser Mann brauchte eindeutig Hilfe, stattdessen wurde er wie Abfall zur Seite geräumt. In der Mission fragte sie nach Tate, der kurz darauf erschien.
»Hallo, Ms. Callaway. Schön, Sie zu sehen«, begrüßte er sie freundlich.
»Nenn mich Joanna«, bat sie, bevor sie Tate erzählte, was sie soeben auf der Straße beobachtet hatte, und sich erkundigte, wie man dem Mann am besten helfen konnte.
Tate seufzte. »Das ist leider ein alltägliches Bild. Wenn es kein medizinischer Notfall ist, kommt Medicaid nicht dafür auf. Die Polizei kann nichts weiter tun, als sich darum zu kümmern, dass derjenige keine Gefahr für sich oder andere darstellt.«
»Das ist menschenunwürdig.«
»Wie leider vieles, mit dem wir zu kämpfen haben. Ich sage bei uns in der Klinik Bescheid. Bestimmt kann einer vom Team rasch nach ihm sehen.« Tate griff zum Telefon und sorgte dafür, dass sich einer der Ärzte um den Mann kümmern würde.
»Danke für deine unkomplizierte Hilfe. Ich bezahle dafür. Ist eine Spende in Ordnung?«
»Das ist nicht nötig, denn wir behandeln alle Personen kostenlos. Allerdings können wir jeden Cent gebrauchen, daher nehme ich dein großzügiges Angebot gerne an. Respekt, die meisten Menschen hätten weggesehen.«
»Wegsehen ist natürlich bequemer, aber der einfache Weg war noch nie meiner. Im Grunde habe ich ja nicht viel mehr getan, als dich um Hilfe zu bitten.«
»Das sehe ich anders. Du hast eine bewundernswerte Eigenschaft, die vielen fehlt: Empathie.« Er lächelte Joanna an. »Lass uns den Rundgang in der Klinik beginnen«, schlug er vor.
»Gerne. Hast du etwas von Carter gehört?«
»Hier hat er sich bisher nicht blicken lassen. Ich habe in den anderen Obdachloseneinrichtungen gefragt, aber leider nichts herausgefunden. Ein paar Eisen habe ich noch im Feuer. Er wird garantiert bald auftauchen«, versicherte er Joanna, als er ihren besorgten Gesichtsausdruck sah.
Während Tate Joanna durch sämtliche Bereiche der Mission führte, erklärte er: »Auch wenn Fentanyl weiterhin eins der größten Probleme darstellt, sind Obdachlose mittlerweile nicht mehr nur süchtig, psychisch krank oder arbeitslos. Seit einigen Monaten kommen immer häufiger Berufstätige mit ihren Familien zur Essensausgabe und bitten um Kleidung. Die Menschen können es sich trotz einer festen Arbeit nicht mehr leisten, in dieser Stadt zu leben. Wohnen ist zum Luxus geworden. An einem normalen Tag geben wir 2.400 Mahlzeiten aus. Die Schlange vor unserem Speisesaal wird immer länger, sodass wir in der letzten Woche an einigen Tagen kein Essen mehr übrig hatten und Menschen wegschicken mussten. Wir tun, was wir können, aber im Grunde ist alles nur ein Tropfen auf den heißen Stein.«
»Ich bin heute bewusst zu Fuß durch dieses Viertel gegangen und habe mir Zeit genommen, um ein Gefühl für diesen Teil der Stadt zu bekommen. Zur Vorbereitung auf unser Treffen habe ich mir die aktuellen Statistiken angesehen. San Francisco gibt jedes Jahr Milliarden aus, um Obdachlosen zu helfen, aber alle Bemühungen scheinen nichts zu bewirken. Im Gegenteil, die Zahl der Bedürftigen steigt konstant. Das hat mir verdeutlicht, wie dramatisch die Situation in Wirklichkeit ist.«
»Die Politik hat zwar das Problem erkannt, aber meiner Meinung nach wird es komplett falsch angegangen.«
»Erklär mir das genauer.«
»Wenn man sich nicht um die Gründe kümmert, warum Menschen ihre Wohnung verlieren, wird das System niemals mithalten können. Es hilft in der Regel nicht, jemanden einfach nur in vier Wände mit Dach zu verfrachten. Beispielsweise benötigt ein Drogensüchtiger Unterstützung, um der Abhängigkeit zu entkommen, indem er einen Entzug und anschließende Betreuung erhält, denn ein strukturierter Alltag ist wichtig. Gibst du ihm lediglich ein bezahltes Heim und überlässt ihn sich selbst, verbesserst du gar nichts. Die Personen, die mental allein nicht zurechtkommen, brauchen eine betreute Unterkunft. Viele sind schlichtweg mit dem Leben überfordert, was automatisch Probleme nach sich zieht, da sie ihr Verhalten nicht kontrollieren können. Aber nachdem es unsere Politiker für sinnvoll hielten, den größten Teil der Psychiatrien zu schließen, landen all diese Seelen auf der Straße. Wusstest du, dass auf einhunderttausend Menschen gerechnet, weniger als zwölf dauerhafte Plätze in psychiatrischen Kliniken zur Verfügung stehen?«
Joanna schüttelte den Kopf.
»Weil diese Personen nicht in der Lage sind, sich in die Gesellschaft einzugliedern, landen sie, anstatt echte Hilfe zu bekommen, immer wieder für ein paar Tage im Gefängnis. Das ist unbestritten der falsche Weg, um mit einer Krankheit umzugehen«, fuhr Tate fort.
Joanna fehlten diese detaillierten Eindrücke bisher. Sie war geschockt und ihr Gehirn lief auf Hochtouren.
»Kann man Obdachlosenunterkünfte nicht als erste Anlaufstelle nutzen, um Hilfe anzubieten?«, wollte sie wissen.
»Damit das funktioniert, müsste ein gänzlich neues Konzept her. Für Obdachlose gibt es in diesen Einrichtungen kostenlos alle möglichen Utensilien, die sie für ihre Süchte benutzen können«, sagte Tate. »Die meisten Leute haben der Stadt applaudiert, als man verkündete, dass man die Beschaffungskriminalität verringern wird, indem man verschreibungspflichtige Medikamente, medizinisches Marihuana, Alkohol, saubere Nadeln und Aderpressen, gestiftet von privaten Spendern, an die Bedürftigen verteilt.«
»Für mich klingt das nach einem Schritt in die richtige Richtung. Was ist daran schlecht?«, erkundigte sich Joanna.
»Das gibt den Menschen weder ihr Leben noch ihre Würde zurück. Du bietest ihnen die Ausrüstung für den Drogenkonsum, statt einer Therapie an. Würdest du eine psychische Krankheit mit Crystal Meth kurieren?«
Joanna schüttelte den Kopf.
»Da hast du deine Antwort. Es braucht ein ganzheitliches Konzept, angefangen damit, warum jemand überhaupt als Wohnungsloser leben muss. Man kann nicht jeden retten, aber mit einem durchdachten Plan ließen sich die aktuellen Zahlen garantiert mehr als halbieren, was sich am Ende ebenfalls für die Stadtkasse rechnet.«
»Ich setze mich für die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum ein. Möglicherweise kann man das mit Hilfsangeboten kombinieren. Ich denke in Richtung einer Stiftung.«
»Da rennst du bei uns und sicher auch bei anderen Hilfsorganisationen offene Türen ein. Wenn du magst, werde ich gerne Kontakte herstellen. Vielleicht können wir gemeinsam etwas bewegen.«
»Ich bitte meinen Assistenten, dich zu kontaktieren.«
»Prima, ich freue mich darauf.« Tates Handy klingelte. Nach einem schnellen Blick auf das Display nahm er das Gespräch an. »Das sind gute Nachrichten. Ist er jetzt da?« Eine kurze Pause folgte. »Danke, dass du mir Bescheid gegeben hast.«
Tate legte auf und sah Joanna an. »Ich weiß, wo Carter ist.«
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Kapitel 15 – Auf eigene Faust