Dies ist Teil 3 von 62 im Buch Sheltered Dreams
Lesedauer: 4 Minuten

3 Erwischt

Nach dem Angriff hatte Carter für Stunden keinen Hunger verspürt. Jetzt meldete sich sein Magen, aber die Mission war längst geschlossen. Das restliche Geld der wöchentlichen Sozialhilfe war in seinem Rucksack gewesen und die nächste Auszahlung gab es erst in drei Tagen. Frustriert über die Erkenntnis, dass er nichts zu Essen kaufen konnte, lief er ein Stück die Van Ness Avenue entlang, quer durch Japantown, bis er schließlich im elitären Viertel Pacific Heights landete. Ein offenes Tor erregte Carters Aufmerksamkeit. Er beobachtete eine Frau, die zwei Abfalltonnen aus der Garage in die Einfahrt rollte und dann in der Villa verschwand. Carter schaute sich verstohlen um. Niemand war in der Nähe, daher schlich er auf das Grundstück, öffnete eine der Tonnen und spähte hinein.
Ein erstickter Aufschrei ließ Carter zusammenzucken. Er blickte hoch. Wie hatte ihm entgehen können, dass die Frau zurückgekommen war? Langsam richtete er sich auf. In den Händen hielt er seine Beute: Eine braune Banane und eine Packung abgelaufenes Brot.
Obwohl Mülltauchen in Kalifornien nicht verboten war, würde ihm eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch und Diebstahl drohen, weil er das Privatgrundstück unerlaubt betreten hatte. Daher sagte er schnell: »Es tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe. Bitte rufen Sie nicht die Polizei. Ich werde Ihr Grundstück sofort verlassen.« Um der Frau zu signalisieren, dass er sie nicht angreifen wollte, hob er beide Hände in die Höhe.
»Rosa, hast du gerufen?«, erkundigte sich eine blonde Frau, die an der Haustür erschien.
»Der Mann da …« Rosa zeigte mit bebender Hand auf Carter. Ihre Augen waren nach wie vor schreckgeweitet. »Er hat den Müll durchwühlt. Soll ich die Polizei …?«
Die blonde Frau trat auf den Hof, tätschelte besänftigend Rosas Schulter. »Nein, nicht nötig.«
Carter blickte zwischen den beiden Frauen hin und her. »Es tut mir leid. Sehen Sie, ich lasse alles fallen.« Er warf die Lebensmittel zurück in die Tonne, dann bewegte er sich langsam rückwärts. Bitte nicht die Cops rufen, flehte er in Gedanken.
Joanna betrachtete den Mann vor sich genauer. Er schien weder betrunken zu sein noch unter Drogeneinfluss zu stehen. Seine Kleidung war abgewetzt und fleckig. Ihr fiel eine frische Wunde an seinem Hals auf. Die dunkelblonden, gewellten Haare waren etwas zu lang. Schließlich blickte sie ihm ins Gesicht. Warme braune Augen sahen sie bittend an. Nichts an diesem Mann machte ihr Angst. Das laute Knurren seines Magens hallte wie ein Donnerschlag durch die Stille.
»Warten Sie hier. Ich hole Ihnen etwas zu essen. Außerdem muss ihre Verletzung versorgt werden«, sagte sie, bevor sie mit Rosa zurück ins Haus ging.
Carter blickte an sich hinunter. Da war Blut auf seinem Sweatshirt. Er zuckte zusammen, als er sich an den Hals griff. Dank des Adrenalins hatte er bisher keinen Schmerz gespürt und den Schnitt vollkommen vergessen. Eine der beiden Frauen würde bei seinem verwahrlosten Anblick garantiert doch die Cops rufen. Carter drehte sich blitzschnell um und rannte, seine letzten Kräfte mobilisierend, über die Straße, wo er sich in den Lafayette Park flüchtete. Dann musste er heute Nacht eben hungern. Es wäre schließlich nicht das erste Mal.
Joanna durchforstete die Vorratskammer. Unter dem kritischen Blick ihrer Haushälterin packte sie eine Papiertüte mit Lebensmitteln, Verbandmaterial und Desinfektionstüchern.
»Soll ich nicht doch besser die Polizei rufen?«, erkundigte sich Rosa.
»Wozu denn? Dass der Mann verletzt ist und Hunger hat, ist kein Verbrechen.«
»Er war auf dem Grundstück.«
»Dafür hat er sich entschuldigt. Ich sehe überhaupt keinen Grund, sein Leben noch schwerer zu machen. Was ist denn heute mit dir los? So voreingenommen kenne ich dich gar nicht.«
Rosa seufzte. »Er hat mich erschreckt. Für einen Moment dachte ich, er hätte eine Waffe und dann musste ich an die Einbruchsversuche der letzten Tage in der Nachbarschaft denken.«
Joanna nahm die Papiertüte vom Küchentresen. »Ich bringe die eben raus.«
»Die Mülltonnen müssen noch an die Straße gestellt werden. Ich komme mit«, sagte Rosa.
Als die beiden Frauen aus dem Haus traten, stellte Joanna enttäuscht fest, dass der Mann nicht gewartet hatte.

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Kapitel 3 – Erwischt

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