4 Ein kleiner Rest Würde – Teil 1
Wie immer war Carter früh auf den Beinen. Tagsüber wollte er keine Zeit im gut besuchten Lafayette Park verbringen. Obwohl er sich bemühte, seine Kleidung sauber zu halten und regelmäßig zu duschen, sah man ihm mittlerweile an, dass er auf der Straße lebte. Da sich in diese teure Wohngegend kaum Obdachlose verirrten, würde er rasch auffallen. Carter wollte keinen Platzverweis durch die Polizei riskieren, denn er hatte vor, sein Nachtlager über einen längeren Zeitraum im Park aufzuschlagen.
Fast zwei Stunden stand er in der Warteschlange vor der Kleiderausgabe der Mission St. Anthony’s im Tenderloin District, bis er an der Reihe war.
»Hey Carter«, begrüßte ihn Tate, der seit Jahren für die Hilfsorganisation arbeitete und viele der Bedürftigen mit Namen kannte. Zuerst bemerkte er das Blut an Carters Kleidung, dann das Pflaster am Hals. »Scheiße, was ist denn mit dir passiert?«
»Überfall. Ich konnte außer mir nichts retten«, antwortete Carter knapp.
Tate schüttelte ungläubig den Kopf. Der Mann hatte eine beispiellose Pechsträhne. Erst vor Kurzem war er mit einem blauen Auge in der Mission aufgetaucht.
Tate gab Carters Namen in den Computer ein. »Dein letzter Einkauf ist erst zwanzig Tage her«, ließ er ihn seufzend wissen.
»Verdammter Mist«, entfuhr es Carter. Den sogenannten Einkauf, wenn auch kostenlos, konnte jeder Bedürftige alle achtundzwanzig Tage in Anspruch nehmen. Damit musste er weitere acht Tage überstehen. Er grübelte darüber nach, wie er seine Hose waschen könnte, ohne dass er etwas zum Wechseln besaß. Im mobilen Waschsalon hatte er schon Nackte gesehen, aber das kam für ihn nicht infrage. Ein kleiner Rest Würde war noch übrig und diesen wollte er behalten.
»Was brauchst du denn besonders dringend?«, erkundigte sich Tate. Das Leben hatte Carter ein Bein gestellt und von diesem Sturz schien er sich nicht mehr erholen zu können. Tate mochte den Mann, der immer höflich war und sich an sämtliche Regeln hielt. Daher würde er heute eine Ausnahme machen und seinem Gegenüber privat weiterhelfen, obwohl er sich geschworen hatte, das niemals zu tun. Denn wenn er einmal damit anfing, wo sollte er bei knapp achttausend Bedürftigen aufhören?
»Eine Hose und eine Isomatte oder einen Schlafsack«, lautete Carters Antwort.
»Pepe, ich mache heute eher Mittagspause. Übernimmst du bitte?«, bat Tate seinen Kollegen, der ihm daraufhin zunickte.
»Komm mit«, forderte Tate Carter auf.
»Wo gehen wir hin?«
»Wirst du gleich sehen.«
Tate führte Carter zu einer Kellerwohnung, die sie nach einem kurzen Fußmarsch erreichten.
»Willkommen in meinem kleinen Reich«, sagte Tate mit einer einladenden Handbewegung. Carter blieb abwartend auf der Schwelle stehen.
»Sei nicht schüchtern, komm rein.« Tate öffnete einen Einbauschrank im Flur, in dem er sofort wild herumwühlte. »Fang«, forderte er Carter auf. Er warf ihm Socken, Unterwäsche, eine Jogginghose, ein T-Shirt und ein Sweatshirt zu. »Wir haben die gleiche Größe. Müsste dir also passen.« Tate zog einen Schlafsack hervor, den er vor Carter auf den Boden plumpsen ließ. Zum Schluss folgte ein schwarzer Rucksack.
Carter blickte ihn fassungslos an. »Was soll das?«
»Damit kommst du über die Runden, bis du wieder einkaufen kannst.«
»Das nehme ich auf keinen Fall an.«
»Du brauchst das Zeug und ich werde es nicht vermissen. Kannst mich auf ein Bier einladen, sobald du wieder im Sattel sitzt.«
Carter schluckte seinen Stolz herunter. »Danke Mann, das werde ich dir nicht vergessen.«
»Kein Ding. Lass mich bitte deine Wunde sehen.« Er zeigte auf Carters Hals.
»Ist zum Glück nur ein Kratzer«, merkte der an, während er das Pflaster abzog, damit Tate den Schnitt begutachten konnte.
»Sieht nicht entzündet aus. Ich gebe dir was zum Desinfizieren mit. Wenn die Wunde juckt oder schmerzt, kommst du bei uns in der Klinik vorbei, okay?«
Carter nickte.
»Da vorne ist das Bad. Eine Dusche wird dir guttun. Ich schmeiße in der Zwischenzeit eine Pizza für uns in den Ofen.«
Carter winkte ab. »Du hast schon mehr als genug getan. Ich gehe zum mobilen Container. Vielleicht habe ich Glück und bekomme heute noch einen Platz.«
»Quatsch.« Tate stieß die Tür zum Bad auf. »Rein mit dir. Pizza ist in fünfzehn Minuten fertig.«
Tates selbstlose Hilfsbereitschaft überrumpelte Carter völlig. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er schluckte mehrmals, um gegen die aufsteigenden Tränen anzukämpfen. »Danke«, brachte er mit krächzender Stimme heraus, bevor er die Badezimmertür schloss.
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Kapitel 4 – Ein kleiner Rest Würde