6 Nachbarschaftshilfe – Teil 2
Carter untersuchte nochmals verschiedene Bereiche des Dachs, strich hier und da Bitumen auf die Nähte. Bei beginnender Abenddämmerung war er fertig. Er gönnte sich einige Minuten und beobachtete, wie die untergehende Sonne im Pazifik verschwand. Früher hatte er die atemberaubenden Sonnenuntergänge über der Bucht mit einer Frau an seiner Seite, einem Glas Wein in der Hand und einem leckeren Essen genossen. Diese Tage waren lange vorbei.
Seufzend riss er sich von dem Anblick los und machte sich auf den Weg zu Joanna, die ihm vorhin gezeigt hatte, wo ihr Arbeitszimmer lag. Er fand sie hinter einem antiken Schreibtisch aus Holz, der in einer gemütlichen Bibliothek stand. Es roch nach alten Büchern, Leder und Holzpolitur. Diese Düfte hatte er schon immer gemocht, sie bedeuteten Heimat für ihn. Genauso hatte sein Arbeitszimmer zu Hause gerochen. Bei dem Gedanken zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen.
Ein Klopfen am Türrahmen ließ Joanna aufblicken. Für eine Sekunde vergaß sie prompt das Atemholen. War das der Mann, der vor einigen Tagen blutverschmiert in ihrer Mülltonne gewühlt hatte? Im Schein des Kaminfeuers schimmerte seine Haut golden und die dunkelbraunen Augen leuchteten. Aus irgendeinem für sie völlig abstrusen Grund fand sie ihn mit dem Werkzeuggürtel gefährlich attraktiv. Obwohl sie beruflich oft von Handwerkern umgeben war, hatte noch kein Mann mit Werkzeuggürtel auch nur ansatzweise dermaßen anziehend auf sie gewirkt. Ihr Mund wurde trocken. Sie griff nach dem Glas Wasser, das neben ihr auf dem Tisch stand, nahm einen Schluck.
»Ich bin fertig«, verkündete Carter.
Joannas Gehirnzellen versuchten verzweifelt, sich zu etwas zu vereinen, das sie in einen sinnvollen Satz verwandeln konnten. »Vielen Dank für deine Hilfe.« Endlich, da waren Worte und ihr gelang es sogar, sie ohne zu stottern auszusprechen.
»Gern geschehen. Ich bringe die Sachen zurück in die Werkstatt, bevor ich mich auf den Weg mache.«
»Wo wirst du während des Unwetters übernachten?«
»Mit etwas Glück bekomme ich einen Platz in einer Notunterkunft.«
»Was passiert, wenn nicht?«
»Dann suche ich mir einen Hauseingang, in dem ich hoffentlich möglichst trocken bleibe und aus dem ich bestenfalls während des Sturms nicht vertrieben werde.«
»Was für ein Bullshit«, murmelte Joanna, aber Carter verstand ihre leisen Worte dennoch.
»So ist mein Leben«, sagte er daraufhin mit einem Schulterzucken.
Joanna stand auf. »Komm bitte mit. Ich möchte dir etwas zeigen«, forderte sie Carter auf.
Er folgte ihr ins Erdgeschoss, durch die imposante Eingangshalle in ein Wohnzimmer, auf eine Terrasse, die Stufen hinunter in den gepflegten Garten, vorbei am Swimmingpool zu einem weiß gestrichenen Gästehaus. Joanna öffnete die Panorama-Schiebetür.
»Du wolltest keine Bezahlung für deinen Einsatz, aber ich werde mir nicht von dir helfen lassen, ohne etwas zurückzugeben. Außerdem würde es mich verrückt machen, zu wissen, dass du da draußen vielleicht nicht sicher bist, obwohl ich dir das hier anbieten kann.«
Carter blickte sie verständnislos an. »Mir was anbieten?«
»Das Gästehaus. Bleib für ein paar Tage. Verbuch es meinetwegen unter Nachbarschaftshilfe.«
Carter sah aus, als hätte sie ihm verkündet, er hätte fünfzig Millionen in der Lotterie gewonnen.
»Bei meinem Einzug war das ein vollgemülltes Poolhaus. Den alten Krempel habe ich rausgeschmissen und es neu eingerichtet. Aber im Grunde weiß ich gar nicht, was ich damit anfangen soll, denn im Haupthaus gibt es genügend Gästezimmer.« Sie lachte und zeigte auf die einzelnen Bereiche. »Sitzecke mit Fernseher, eine kleine Küche, ein Bett und ein Bad. Ich werde Rosa bitten, den Kühlschrank mit Getränken und Snacks für dich aufzufüllen. Ansonsten müsste vom Duschgel über Zahnbürste bis zum Bademantel alles da sein. Den Pool darfst du natürlich auch gerne benutzen.«
Himmel, wie sehr er ihr Angebot annehmen wollte. Aber er konnte es nicht. Wie sollte er jemals wieder zurück auf die Straße, nachdem er in diesem Paradies übernachten durfte? Er wollte schon ablehnen, als sich vor seinem geistigen Auge verstörende Bilder manifestierten. Carter sah sich Schutz suchend in der Ecke eines Abrisshauses kauern, während Regen in sein Gesicht peitschte. Bei diesen Gedanken lief ein unbehaglicher Schauer durch ihn hindurch. Hier schlafen zu dürfen war ein Traum, und er hatte sich schon lange nicht mehr erlaubt, zu träumen. Vermutlich hatte er das Träumen sogar verlernt. Sein Blick traf auf Joanna, die ihn abwartend anlächelte. Trotz seiner Bedenken sagte er zu.
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Kapitel 6 – Nachbarschaftshilfe