7 Der Sturm – Teil 1
Carter räumte die Werkzeuge wieder an ihren Platz und wuchtete anschließend die Plane von der Einfahrt in den Keller. Nachdem er fertig war, griff er seinen Rucksack und folgte Joannas Wegbeschreibung, die ihn in eine appetitlich nach Essen duftende Küche führte. Joanna stand neben einer Frau, die mit gekonnten Handgriffen Tortillafladen ausrollte. Sie blickte hoch, als er den Raum betrat. Sobald sie Carter erkannte, verengten sich ihre Augen. Joanna legte lächelnd einen Arm um die Frau, die ihr bis zur Schulter reichte.
»Rosa, das ist Carter.«
»Ich erinnere mich an Sie«, antwortete Rosa reserviert.
Carter lächelte die Frau an, hoffte, die frostige Stimmung etwas aufzulockern. »Ich entschuldige mich nochmals in aller Form dafür, dass ich Sie letztens erschreckt habe. Das lag nicht in meiner Absicht. Es wäre schön, wenn wir beide von vorn beginnen könnten.«
Manieren hat er jedenfalls, dachte Rosa. Trotzdem hielt sie es für keine gute Idee, dass Joanna diesen Fremden ins Haus einlud.
»Carter hat freundlicherweise das Leck im Dach notdürftig geflickt. Ich habe ihm im Gegenzug angeboten, für eine Weile im Gästehaus zu übernachten«, erklärte Joanna.
Rosa war anzusehen, dass sie diese Idee wenig begeisterte. Einem unbekannten Mann Zutritt zum Grundstück zu geben, war einfach nicht klug. Sie würde später unter vier Augen mit Joanna darüber sprechen. Jetzt nickte sie nur, bevor sie sich wieder dem Ausrollen des Teigs widmete.
»Rosa und ihr Mann Carlos haben über zwanzig Jahre für den Vorbesitzer gearbeitet und sind glücklicherweise geblieben, als ich das Haus übernommen habe. Die beiden sind wie eine Familie für mich.«
Rosa, deren schwarze Haare die ersten grauen Strähnen zeigten, lächelte Joanna liebevoll an. »Einer muss ja auf dich aufpassen. Wenn ich nicht ständig hinter dir her wäre, würdest du vierundzwanzig Stunden arbeiten und dabei das Essen vergessen.«
»Du bist die beste Zweitmutter, die man sich wünschen kann«, erwiderte Joanna und drückte die Frau erneut. »Bitte plan Carter ab jetzt für alle Mahlzeiten mit ein.«
Die Vorstellung, dass Joannas Angestellte für ihn kochen sollte, löste bei Carter Unbehagen aus, daher lehnte er ab. »Danke, aber das ist wirklich nicht nötig. Ich sorge für mich selbst.«
Rosa richtete sich kerzengerade auf und blickte Carter fest in die Augen. »Wenn Joanna möchte, dass ich für Sie Essen zubereite, dann werde ich das gerne tun.«
»Lass dir das auf gar keinen Fall entgehen. Rosa ist eine wahre Meisterin, die selbst Sterneköche in den Schatten stellt«, setzte Joanna hinzu.
Rosa tätschelte Joannas Arm und bedankte sich auf Spanisch für das Kompliment.
In diesem Haus herrschte eine warmherzige Atmosphäre. Obwohl er die beiden kaum kannte, spürte Carter die besondere Verbindung zwischen Rosa und Joanna. Die Frauen brachten längst vergessene Saiten in ihm zum Klingen. Verwundert stellte er fest, dass er sich zum ersten Mal seit langer Zeit auf eine Unterhaltung und sogar über Gesellschaft freute. Carter gab sich geschlagen. »Das bezweifle ich nicht, denn hier riecht es absolut köstlich«, sagte er in perfektem Spanisch.
»Gracias, Señor Carter«, erwiderte Rosa.
Das Erstaunen über Carters tadellose Aussprache war Rosa anzusehen, daher schob er eine kurze Erklärung nach: »Meine Großmutter war Kolumbianerin und hat ausnahmslos Spanisch mit mir gesprochen.« Er deutete auf die bemehlte Arbeitsfläche vor Rosa. »Würden Sie mir beibringen, wie man die Fladen so flach ausrollt? Bewundernswert, wie leicht das bei Ihnen aussieht. Ich habe mich mehrmals daran versucht, aber bin jedes Mal sagenhaft gescheitert.«
Rosas Gesicht hellte sich auf. Sie hatte sich fest vorgenommen, diesen Mann nicht zu mögen, allerdings machte er es ihr mit seiner freundlichen Art wirklich schwer. Sie warf ihm eine Küchenschürze zu. »Aber vorher Händewaschen.«
Joanna blickte zwischen den beiden hin und her. Sie hatte gewusst, dass Rosa auftauen würde. »Ich habe noch eine Videokonferenz. Wartet mit dem Essen nicht auf mich, es wird länger dauern.«
Nachdem Joanna gegangen war, weihte Rosa Carter in die Kunst der Herstellung von Tortillas ein. Während des Essens bat Carter sie, das Señor wegzulassen und ihn einfach beim Vornamen zu nennen. Im Anschluss an das Abendessen bestand er darauf, beim Aufräumen der Küche zu helfen, womit er weitere Pluspunkte bei Rosa sammelte.
Ihm brannte bereits die ganze Zeit eine Frage unter den Nägeln, die er schließlich stellte: »Was macht Joanna eigentlich? Beruflich meine ich.«
»Das weißt du nicht?«
»Nein.«
»Sagt dir Real Living etwas?«
»Joanna arbeitet für das Unternehmen?« Carter fragte sich, welche Position man innehaben musste, um sich ein solches Haus leisten zu können.
Rosa lachte. »Joanna ist das Unternehmen.«
Vor Verblüffung wurden Carters Augen groß. »Ihr gehört der Immobilienriese?«
Wie eine stolze Mutter antwortete Rosa: »Joanna führt den Konzern vorbildlich und sie behandelt ihre Mitarbeiter gut. Sie sagt immer, ohne das Team an ihrer Seite wäre sie nichts. Aber wenn man sie ausnutzt oder sich nicht an Regeln hält, fährt sie die Krallen aus. Sie macht sich auch mal die Hände schmutzig und ist privat überhaupt nicht glamourös. Joanna ist der fleißigste, natürlichste, liebenswürdigste Mensch, den ich kenne.«
Carter nickte. »Joanna macht einen äußerst sympathischen Eindruck. Niemand ist dermaßen hilfsbereit und aufgeschlossen auf mich zugegangen, seit ich …« Er räusperte sich, anstatt den Satz zu beenden, da er nicht zu viel von sich preisgeben wollte. Stattdessen fragte er: »Ist sie immer so offen zu Fremden? Letztens ist sie mir spätabends allein in den Park gefolgt. Jetzt sitze ich in ihrer Küche und könnte der nächste Axtmörder sein. Das erscheint mir nicht ungefährlich.«
Rosa blickte ihn an, versuchte herauszufinden, ob sie ihm tatsächlich trauen konnte. Sie glaubte daran, dass die Augen eines Menschen viel verrieten. Carter erwiderte ihren Blick offen. Die darin liegende Besorgnis schien aufrichtig zu sein.
»Normalerweise ist ja mein Mann hier. Carlos ist ein Chamäleon und springt immer da ein, wo er gebraucht wird. Er ist Gärtner, Hausmeister, Bodyguard und Chauffeur in einem. Vermutlich wird er anfangs wenig angetan sein, wenn er erfährt, wie du zu uns gefunden hast.« Rosa lächelte verschmitzt.
»Das ist völlig verständlich. An seiner Stelle würde sich meine Begeisterung garantiert auch in Grenzen halten. Falls du Hilfe im Haus oder Garten brauchst, solange dein Mann weg ist, sag bitte Bescheid. Ich packe gerne mit an. Auf diese Weise kann ich mich wenigstens durch Taten für die Gastfreundschaft bedanken.«
»Du weißt nicht, worauf du dich mit diesem Angebot einlässt. Der alte Kasten hat immer irgendwelche Überraschungen parat. Meistens solche, auf die man gut und gerne verzichten kann«, setzte Rosa mit einem amüsierten Lächeln hinzu, während sie Hähnchen-Tortilla-Suppe in eine Thermoschüssel füllte. Sie stellte eine Cola Zero auf ein Tablett, legte Serviette und Löffel dazu. »Ich bringe Joanna ihr Essen, dann mache ich Feierabend. Sehen wir uns morgen zum Frühstück?«
Carter stand auf. »Gerne, gute Nacht.« In der Tür drehte er sich zu Rosa um. »Ich hatte lange keinen so schönen Abend mehr. Danke.«
Sie blickte ihm nach und fragte sich, was diesem Mann wohl widerfahren war.
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Kapitel 7 – Der Sturm