Dies ist Teil 15 von 62 im Buch Sheltered Dreams
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9 Carters Geschichte – Teil 1

Carter rieb sich die Stirn und Joanna dachte, er würde nicht antworten, aber dann brach er sein Schweigen. »Ich besaß zusammen mit meinem Teilhaber Julian eine gut gehende Firma. Doyle & Greenville Sanierung und Renovierung. Als Julians Ehe in die Brüche ging, war er für eine Weile verständlicherweise neben der Spur. Er kam oft zu spät, vergaß wichtige Termine und war aufbrausend. Daher verordnete ich ihm eine längere Auszeit, damit er sich sammeln konnte. Als er zurückkam, bestand er darauf, dass ich mir ebenfalls einige Wochen freinahm.«
»Du hattest zu dem Zeitpunkt Urlaub sicher dringend nötig.«
»Darauf kannst du wetten. Julian schien es besser zu gehen, daher habe ich arglos meine Koffer gepackt und mir die Erholung gegönnt.«
»Aber es gab einen Haken?«
Carter schnaubte. »Oh ja. Ich bin in einen Albtraum zurückgekehrt. Die Reise war dafür gedacht, mich eine Weile aus dem Weg zu schaffen. Wie sich herausstellte, hatte Julian meine Unterschrift auf der Bankvollmacht gefälscht. Während ich die freien Tage genoss, räumte er das Firmenkonto leer und verschwand. Mit ihm waren sämtliche Anzahlungen der Kunden weg und Lieferanten wurden nicht bezahlt. Viele Menschen haben dadurch eine Menge Geld abschreiben müssen. Es hagelte Anzeigen und ich wurde angeklagt.«
»Unfassbar. Was ist dann passiert?«
»Nachdem meine Schockstarre nachgelassen hatte, bestand ich auf Schriftgutachten, denn das war die einzige Möglichkeit, meine Unschuld zu beweisen. Der Sachverständige bestätigte, dass es sich nicht um meine Unterschrift handelte. Er konnte außerdem belegen, dass die Unterschrift Merkmale von Julians Handschrift aufwiesen. Ich wurde von sämtlichen Anklagepunkten freigesprochen, aber da war mein Ruf bereits ruiniert. Ich bekam keine neuen Aufträge und die Banken sperrten die Kredite. So habe ich alles verloren. Zuerst die Firma, dann mein Haus und zum Schluss mein Leben.«
»Was ist aus deinem Partner geworden?«
»Nach ihm wird gefahndet, aber seine Spur verliert sich in Südamerika. Ich befürchte, dass er nie gefunden wird. Er hatte genug Zeit, um sich abzusetzen, bevor die Bombe geplatzt ist und er in den Fokus der Ermittlungen rückte. Vermutlich werde ich nie erfahren, warum er das getan hat. Ich verstehe es bis heute nicht und das nagt an mir.«
Joanna hatte einen kleinen Kreis von Menschen, denen sie vorbehaltlos vertraute. Einer davon war Brian. Allein die Vorstellung, dass ihr Stellvertreter sie hintergehen könnte, ließ sie erschaudern. Umso mehr bewunderte sie Carter für die Stärke, sich nicht aufzugeben. Sie wüsste nicht, ob ihr das in seiner Situation gelingen würde. Joannas Handy klingelte. Sie warf einen Blick auf die Anruferkennung und nahm das Gespräch seufzend an. Da sie sich von Carter entfernte, konnte er nicht verstehen, um was es ging. Nachdem sie das Telefonat beendet hatte, rang sie sichtlich um Fassung. »Mein erstes Magengeschwür werde ich David nennen«, murmelte sie und kickte schwungvoll einen Stein in den See.
»Ärger?«
Sie nickte. »Ich brauche einen Augenblick, um meine Nerven zu beruhigen.«
»Komm mit.«
»Wohin?«
»Nicht fragen, mitkommen.«
Er lief mit Joanna zum Holzschuppen, griff nach einer Spaltaxt, einer Sicherheitsbrille und Arbeitshandschuhen.
»Setz die Brille auf und zieh die Handschuhe an«, forderte er Joanna auf, während er ein Stück Holz auf dem Hackblock platzierte.
»Wozu?«
»Holzhacken ist die beste Methode, um sich abzureagieren.«
»Ich kann kein Holzhacken.«
»Natürlich kannst du das. Pass auf, ich zeige es dir.«
Er nahm die Axt und demonstrierte die Schritte. »Du musst dich immer breitbeinig aufstellen, damit du dir bei einem Fehlschlag nicht in die Beine haust. Halte den Stiel mit beiden Händen am unteren Ende fest. Schwing die Axt leicht über den Kopf, dann nach unten.«
Er ließ die Spaltaxt auf das Holz niedersausen und teilte das Stück krachend in der Mitte.
»Jetzt du.« Das Werkzeug reichte er an Joanna weiter.
Sie beäugte die Axt in ihrer Hand skeptisch, aber tat, was Carter ihr erklärt hatte. Beim ersten Versuch sprang der Holzklotz vom Block, beim zweiten Mal blieb die Axt stecken. Als Carter sie beim nächsten Versuch anfeuerte und ihr sagte, dass sie ihren Frust in den Schlag setzen sollte, spaltete sie das Teil sauber durch. Sie schrie vor Freude darüber auf. »Tschakka, hast du das gesehen?« Joanna hüpfte auf und ab, grinste dabei über das ganze Gesicht.
»Pass mit der Axt auf«, warnte Carter amüsiert und platzierte das nächste Stück Holz. Irgendwann ließ Joanna die Axt zu Boden gleiten.
»Wow, mir geht es viel besser. Danke für diese interessante Therapie.« Sie rieb sich die brennenden Oberarme. »Lass uns aufräumen, dann muss ich wohl oder übel arbeiten.«
»Geh ruhig, ich kümmere mich um alles«, sagte Carter.
Sie schaute ihn für einen Moment nachdenklich an. »Ich habe keine Lust, heute noch zurückzufahren. Wäre es für dich in Ordnung, über Nacht zu bleiben? Du kannst im Gästezimmer schlafen. Im Badezimmerschrank liegen neue Zahnbürsten und frische Handtücher.«

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